02: Krieger des Eises

Staffel 1 – Folge 2

Die Tage nach dem Sturm waren von einer gespenstischen Stille erfüllt, die noch beunruhigender war als das Heulen des Windes selbst. Der Schnee lag metertief und hatte die Landschaft in eine unwirkliche, weiße Decke gehüllt. Doch unter dieser scheinbaren Ruhe brodelte eine unterschwellige Angst im Herzen des Eisclans. Die unnatürliche Intensität des Wetters hatte niemanden unberührt gelassen, und die Worte der Ältesten über die Prophezeiung des erwachenden Zorns hallten in den eisigen Winden wider.

Ylva-Is verbrachte die meiste Zeit in stiller Kontemplation. Sie wanderte durch die verschneiten Hänge, den Blick auf die fernen, nebelverhangenen Gipfel gerichtet. Das Gewicht der Prophezeiung lastete schwer auf ihr. Sie war die Erbin des Eisclans, und die Zeichen deuteten unmissverständlich darauf hin, dass ihre Zeit gekommen war, eine Rolle in den kommenden Ereignissen zu spielen. Doch was genau diese Rolle sein sollte und wie sie sich einer so uralten und mächtigen Bedrohung stellen konnte, lag noch im Dunkeln.

Eines kalten Morgens, als die ersten Sonnenstrahlen mühsam durch die dichte Wolkendecke brachen, wurde Ylva-Is zu ihrer Mutter gerufen, der Stammesführerin. Die Ältesten des Clans waren ebenfalls versammelt, ihre wettergegerbten Gesichter von Sorge gezeichnet. In der Mitte des Raumes, auf einem Tisch aus gefrorenem Holz, lag ein alter Lederband, dessen Seiten mit Runen bedeckt waren, die die Geschichte des Eisclans und die Prophezeiungen der Vergangenheit enthielten.

Die Stammesführerin, eine Frau von beeindruckender Statur und mit Augen, die die Weisheit vieler Winter widerspiegelten, blickte Ylva-Is ernst an. „Meine Tochter“, begann sie mit einer Stimme, die trotz ihres Alters fest und klar war, „die Zeichen sind eindeutig. Der Zorn der Ahnen ist erwacht. Unsere Träume sind unruhig, die Tiere fliehen, und der Winter hat eine unheilvolle Stärke angenommen. Die alte Prophezeiung spricht von einer Zeit, in der die Träne des Himmels verloren geht und die Geister der Vergangenheit sich in ihrem Zorn erheben.“

Ylva-Is hörte aufmerksam zu, das Gewicht der Worte ihrer Mutter spürend. Sie wusste von der Legende der Träne des Himmels, einem heiligen Kristall, der einst den Frieden zwischen den Menschen und den Geistern der Ahnen sichergestellt hatte. Dass dieser nun verloren sein sollte, verhieß nichts Gutes.

Ein alter, bärtiger Ältester trat vor. „Die Prophezeiung sagt auch eine Kriegerin aus unserem Clan voraus“, fügte er hinzu, seine Stimme brüchig, aber bestimmt. „Eine Kriegerin mit dem Herzen eines Wolfes und der Stärke des Eises wird sich erheben, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wir glauben, Ylva-Is, dass du diese Kriegerin bist.“

Die Worte der Ältesten trafen Ylva-Is tief in ihrem Inneren. Sie hatte immer die Geschichten von den Helden der Vergangenheit geliebt, aber sie hatte nie gedacht, dass sie selbst eines Tages eine solche Rolle spielen würde. Dennoch spürte sie in ihrem Herzen eine wachsende Entschlossenheit. Sie konnte ihre Heimat und ihr Volk nicht im Stich lassen.

Nachdem die Ratsversammlung beendet war, begann Ylva-Is mit den Vorbereitungen für ihre Reise. Sie packte Proviant ein, darunter getrocknetes Fleisch, hartes Brot und wärmende Kräutertees. Sie überprüfte ihren Bogen und ihre Pfeile, vergewisserte sich, dass die Sehne straff und die Federn unversehrt waren. Das Amulett um ihren Hals fühlte sich nun nicht mehr nur kalt, sondern fast schon wie ein Kompass an, der sie in eine unbekannte Richtung zog.

Ihre Mutter schenkte ihr ein altes Familienerbstück: einen Dolch mit einer Klinge aus poliertem Obsidian, dessen Griff mit Runen verziert war. „Dieser Dolch hat schon vielen unserer Vorfahren in dunklen Zeiten gedient“, sagte sie mit ernster Miene. „Möge er dich beschützen, meine Tochter.“

Am nächsten Morgen, als die Sonne in einem blassen Orange über den Horizont stieg, verließ Ylva-Is die Siedlung ihres Clans. Der Abschied war kurz und gefasst, wie es die Tradition des Eisclans verlangte. Ihre Mutter umarmte sie fest, und die Ältesten nickten ihr stumm zu, ihre Augen voller Hoffnung und Sorge zugleich.

Allein machte sich Ylva-Is auf den Weg durch die tief verschneite Landschaft. Der Wind pfiff ihr um die Ohren, und die Kälte kroch in ihre Kleidung, aber ihr Entschluss war gefasst. Sie wusste nicht, wohin ihre Reise sie führen würde oder welche Gefahren auf sie lauerten, aber sie war bereit, sich ihnen zu stellen. In ihrem Herzen trug sie die Hoffnung ihres Clans und den Mut einer Eiswölfin.

Nach einigen Tagen des Marsches erreichte Ylva-Is die Grenze der nördlichen Hochebenen. Vor ihr erstreckte sich ein weites, unbekanntes Land, das von dunklen Wäldern und zerklüfteten Bergen geprägt war. In der Ferne konnte sie einen einsamen Rauchstreifen erkennen, der sich in den Himmel schlängelte – ein Zeichen von Leben in dieser scheinbar verlassenen Wildnis. Instinktiv spürte Ylva-Is, dass dieser Rauchstreifen sie vielleicht zu Antworten oder Verbündeten führen könnte. Sie änderte ihre Richtung und begann, sich auf den Weg dorthin zu machen, bereit für alles, was sie auf ihrer Reise erwarten würde. Der Zorn der Ahnen hatte seine ersten Schatten geworfen, und Ylva-Is, die Kriegerin des Eises, war aufgebrochen, um sich der Dunkelheit entgegenzustellen.

48 Minuten